Back to top
20 10 | '16

Eine Liebesgeschichte in neun Zehen

Dieser Blogartikel sollte nicht begleitend zu einer Mahlzeit gelesen werden. Akute Appetitlosigkeit könnte die Folge sein.

 

In meiner Schuhsohle ist ein Loch. wie ich das gemerkt habe? Nun, entweder hat meine Lunge eine zusätzliche Luftzufuhr durch die Ferse oder es ist der Schuh, der mich klingen lässt wie eine wandelnde Luftpumpe. Ich frage mich, wann die ersten Fahrradfahrer neben mir anhalten: «Haste mal Luft?»

Gerade läuft eine Frau in Flipflops an mir vorbei. Schlapp, schlapp. Ich weiss ja nicht, ob sie das weiss, aber bei den Temperaturen frieren einem bald mal die Zehen ab. Die spürt man nicht und schwups sind sie abgebrochen. Zu Hause angekommen, fällt ihr als erstes auf, dass ihre Schuhe fehlen, die durch die fehlende Klemmbewegung natürlich ebenfalls unterwegs liegen geblieben sind. Und dann: Scheisse, die Zehen sind weg! Erstmal Mikrowelle auf Auftauen stellen und Füsse rein (Normalbetrieb geht auch, dann sind sie schon vorgebräunt für den Sommer). Und jetzt geht sie lästige Sucherei los. Hoffen, dass inzwischen nicht alle Zehen von einem Hund gefressen worden sind (schmeckt immer noch besser als das, was der normalerweise zu fressen bekommt). Nichts finden. Im Fundbüro verschämt nachfragen. Der Typ hinter der Theke verschwindet und kommt wieder – mit Schutzmaske und Handschuhen – und knallt ihr eine Kiste hin mit den Worten: «Wir haben hier jede Menge Zehen, vielleicht sind Ihre ja dabei? Diejenigen, die schon Nachwuchs bekommen haben, haben wir allerdings aussortiert.» Als er ihren entsetzten Blick bemerkt, meint er mitfühlend: "Soll ich Ihnen vielleicht Gasmaske und Handschuhe bringen?" Sie nickt, den Tränen nahe.

Zwei Stunden später kommt sie aus dem Fundbüro. Einen Zeh hat sie gefunden – ihren kleinen linken Zeh mit dem Ring dran. Sogar der rosa Nagellack war noch intakt. Zu Hause angekommen, schreibt sie eine Todo-Liste:

 

Punkt 1: den Zeh wieder ankleben – Heissleim und Zwei-Komponenten-Kleber kaufen

Punkt 2: Papier kaufen

 

Auf das Papier druckt sie eine Vermisstmeldung. Zehen gesucht. Rosa Perlmutt-Nagellack, der grosse Zeh hat etwas Fusspilz.

Den letzten Satz streicht sie. Sonst landet der Zeh womöglich noch im Müll.

Was sie nicht weiss: der Fundbüro-Mensch ist ein heimlicher Zehen-Sammler und hat ihre restlichen Zehen in Harz gegossen. Diese stehen jetzt bei ihm auf dem Kaminsims.

Und so wird sie nie wieder Flipflops tragen – geht ja nicht mit nur einem Zeh.

Wäre das eine kitschige Liebesgeschichte, dann würde sie sich in den Fundbüro-Mensch verlieben, irgendwann landen sie bei ihm zu Hause in seinem Bett, am nächsten Morgen entdeckt sie die Zehensammlung, schreit ihn an "Wie konntest du mir das nur antun?!" und stürmt hinaus. Dann redet sie wochenlang nicht mehr mit ihm. Ihre Freundinnen organisieren heimlich ein Treffen und er erzählt ihr die rührselige Geschichte von seinem linken Ohr, das ihm leider in einem besonders kalten Winter in seiner Kindheit abgefallen ist und von einem herrenlosen Berner Sennenhund gefressen worden war und wie er nie darüber hinweg gekommen ist. "Ich kann sie einfach nicht vergammeln sehen!", sagt er und weint. Und da leben sie glücklich für den Rest ihres Lebens in seinem Haus – sie, er und ihre neun Zehen.