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04 02 | '17

Erste Striche

Das Hier und Jetzt. Ich setze oben mit der Feder an. Ziehe ausatmend einen Strich bis ganz nach unten. Das Kratzen der Feder auf Papier fällt mir erst beim elften Strich auf. Mein verspannter Kiefer beim dreizehnten. Immer und immer wieder beginne ich von Neuem. Die Zeichnung ist nicht wichtig. Das ist ein Abfallprodukt. Es geht um das Erleben von Zeichnen. Ich denke schon an die nächste Linie... zurück zur aktuellen Linie. Zuschauen, wie sich die schwarze Tusche auf dem Blatt verteilt. Der Linie beim Wachsen zusehen. Die Ausschläge der Linie bei jedem Pulsschlag.

Im Studium versuchte ich, einen Grashalm eingehend zu betrachten, während ich über die Autobahn bretterte. Und dachte, ich sähe den Grashalm doch ganz gut. Dabei hatte ich nicht einmal das Grün richtig angeschaut, geschweige denn die Form, die zarten Einbuchtungen, die spannungsgeladene Krümmung bis hin zur Spitze.

Das Projekt nach dem Studium war ähnlich. Sehr gedrungen, es wollte mit Wachstumsschleuniger davonspriessen. Mir wurde bewusst, dass ich die nächsten dreissig Jahre davon fliehen könnte, mich mit dem Projekt wirklich auseinanderzusetzen. Es würde immer wieder mäandrieren, mutieren, meinen Händen entschlüpfen – und nie fertig werden. Und immer begleitet von dem Gefühl, an etwas ganz Grossartigem und Aussergewöhnlichem zu arbeiten... während nicht wirklich etwas entsteht.

Seit dem letzten Montag gehört die erste Stunde des Tages der Kunst. Statt rauschhafte Exzesse, welche mit einer totalen Erschöpfung enden, eine solide Arbeitsleistung. Davor hatte es jeweils zwei, drei Tage Pause gegeben, die mich komplett aus dem Projekt raus beförderten. Brüche waren die Folge. Brüche, die sich auch nicht mehr wirklich kitten liessen.

Und ich habe mich gezwungen, jeden Tag einen Aspekt herauszupicken und ein Büchlein daraus zu machen. Inzwischen sind es deren sechs. Einfach so. Beinahe mühelos. Dann heute merkte ich, dass jedes dieser Büchlein genügend Arbeitsmaterial für monatelanges Arbeiten liefern könnte. Wie war das mit dem Weltall? Es gibt keinen Leerraum – denn selbst dort sind noch winzige Teilchen vorhanden. Und im Leerraum zwischen diesen Teilchen wieder. Und wieder. Man muss nur genau genug hinschauen.

Und schliesslich erinnerte mich an etwas aus dem Zen-Buddhismus, das ich gelesen hatte. Das Zeichnen in eine Meditation zu verwandeln – und man beginnt damit, Striche zu ziehen. Erst wenn die nötige Konzentration und Geisteshaltung geschafft ist, geht man über zum nächsten Schritt. Nun würde ich es bevorzugen, die nächsten drei Jahre nicht nur ausschliesslich Striche zu ziehen, auch wenn das nach ein paar Monaten sicherlich ganz unglaubliche Zeichenblätter wären – aber als eine Einstimmung vor dem eigentlichen Zeichnen eignet sich das wunderbar. Holt mich von der Autobahn.

Vermutlich wird es irgendwann eine Gegenbewegung brauchen. Chaos ins Projekt bringen, das Wesensfremde hereinbringen – denn es sind die Störungen, die mich am meisten interessieren. Was zu glatt aufgeht, zu perfekt ist, verliert auch schon wieder an Lebendigkeit. Die Suche nach der perfekten Balance kann Jahre dauern. Denke ich.