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19 10 | '13

Lektion: Den Bogen spannen üben

Entschleunigen. Wer einmal am Zürcher Hauptbahnhof zur Rush-Hour unterwegs war, weiss, dass das fast ein Ding der Unmöglichkeit sein kann. Vielleicht liegt es an den Abgasen in der Atemluft oder an den nervösen Stöckelschuhen. Es fängt schon mit der Ankunft am Bahnhof an. Zehn Minuten vorher kündigt die Kondukteurin bereits den Halt an. Die Leute stehen auf, stellen sich in den Gang. Spätestens zehn Sekunden nach Ankunft muss man bereit sein. Wer nämlich das Aussteigen verpasst und als Nachzügler noch versucht, rauszukommen, wird vermutlich scheitern. Denn jetzt drängen all die Leute die Treppe hinauf, als ob es da drin etwas zu gewinnen gäbe. Erreicht man dann das Perron, ist man bereits gestresst. Versucht man dann, bewusst langsamer zu gehen, wird man ständig überholt, zur Seite gedrängelt, manchmal auch geschubst. Im Strassenverkehr gibt es wenigstens so etwas wie Vorfahrtsregeln. Hier nicht.

Was hat das nun mit dem Zeichnen zu tun? Zeichnen bedeutet, zu entschleunigen. Sich hinzusetzen. Wahrnehmen. Atmen. Sich nicht von den Gedanken fortreissen lassen - in der Gegenwart sein. 

Als die Dozentin heute davon sprach, wie das mit dem Zeichnen ist, kapierte ich: Zeichnen ist nichts Anderes als Meditation! Man setzt die ersten Striche. "Aber das hier ist nicht gut!", meckert die innere Kritikerin. Erneut ankommen. Atmen. "Huch, die hat mich angeschaut! Die hat kapiert, dass ich sie zeichne! Gleich kommt sich rüber und schaut sich meine grottenschlechte Zeichnung an!" Erneut ankommen. Atmen. Wenn die Konzentration schwächelt, sieht man es der Zeichnung an. Plötzlich wirkt die Linie sehr ungenau, als hätte die Zeichnerin nicht richtig hingeschaut. Die Tusche-Feder wirkt besoffen.

Beim letzten Mal zeichnen war mein Kugelschreiber ziemlich besoffen. Diesmal habe ich mich mit der Tusche-Feder versucht. Hier muss man die Tinte immer wieder aus dem Fässchen holen - das bremst. Ich muss ans Bogenschiessen denken, wo immer und immer und immer wieder das Spannen des Bogens geübt wird, bevor man auch nur einen Pfeil abschiesst. Das Spannen des Bogens ist vielleicht sogar wichtiger als der Schuss selbst. Denn hier holt man sich die Konzentration, die Energie. Beim Abschiessen des Pfeils darf man dann nicht "schiessen" - man hält nur die Spannung und der Körper sagt dann, wann es Zeit ist, loszulassen. Das ist etwas Anderes als verkrampft zu denken "so, und jetzt schiesse ich genau ins Schwarze, diesmal klappt es!". Ich empfehle die Lektüre des Buches "Zen in der Kunst des Bogenschiessens". Diese Prinzipien lassen sich auf alles anwenden.

Die Dozentin hat gesagt: "Ab irgendeinem Zeitpunkt wird es euch egal, ob ihr gut zeichnet oder nicht." Wenn man voll konzentriert zeichnet, ist es nicht mehr wichtig, dass das Ergebnis gut ist - das Erlebnis wird wichtig. Das kenne ich vom Schreiben und es ist mir beim Zeichnen passiert. In diesen Momenten fühle ich mich immer, als könnte ich allein durch das Zeichnen mehr über diese Menschen erfahren - fast so, als könnte ich durch das Zeichnen hinter die Fassaden sehen, die sie sich so mühevoll aufgebaut haben. Es fallen einem winzige Regungen auf, die einem im Alltag nie auffallen würden. Ein Zusammenkneifen der Lippen, ein verletzlicher Blick. Eine vermeintlich sauertöpfische Frau entpuppt sich plötzlich als ein verletzlicher, unglücklicher Mensch. Es sind diese Erlebnisse, für die ich zeichne.

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