Striche sehen.
Kunst, das ist eine Strich auf einer Leinwand. Kunst, das ist, willkürlich Gegenstände im Raum zu verteilen. Kunst, das ist elitäres Denken. Kunst, das ist Esoterik.
So ähnlich habe ich früher auch gedacht. Bis mir Dozierende in Vorkurs und Studium den Weg gewiesen haben, Kunst zu verstehen. Und schlussendlich ist mit dem neueren Verständnis Kunst auch ein so offener Begriff geworden, dass er schwierig zu erfassen ist. Deshalb hier nur meine ganz persönliche Perspektive.
Tief in unserem Gehirn lauert eine Welt, die so viel grösser ist als da bisschen, das wir mit unserem Bewusstsein wahrnehmen. Diese Welt kommt zum Vorschein, wenn wir träumen, wenn wir spontan sind – oder eben, wenn wir kreativ sind. Assoziationen tauchen scheinbar aus dem Nichts auf. Was man früher von "Gott eingegeben" empfand, würde ich schlicht als "plauderndes Unterbewusstsein" bezeichnen. Das Unterbewusstsein plaudert jedoch nicht in kohärenten Sätzen. Es springt von fahrenden Schiffen zur Steuererklärung zurück zur Titanic und siehe da, haben wir eine Angst entdeckt, die hohe Steuerrechnung nicht bezahlen zu können – und eine wunderschöne Ausdrucksweise hierfür gefunden. Es ist die ungeschliffene Sprache eines Babys, das sich nur in rudimentären Wörtern ausdrücken kann – "Ball", "da", "Hunger". Es braucht die Interpretation des Bewusstseins, um aus diesen Fragmenten einen Zusammenhang herauszulesen. Diese Interpretationen sind erst einmal Hypothesen – doch kehren immer dieselben Muster in unterschiedlichen Formen wieder bestätigt sich irgendwann die These. "Willkür" kommt für mich hier nicht vor, denn das Gehirn stellt keine willkürlichen Zusammenhänge her.
Nun wird es richtig kompliziert, denn interpretiert jemand die künstlerischen Erzeugnisse von jemand anderem, wird er dessen "Schlüssel" zur Interpretation möglicherweise nicht besitzen. Er verwendet statt dessen seine eigene Erfahrungswelt zur Interpretation. Wenn der Betrachter nun zu einem ganz anderen Schluss kommt als die Künstlerin es beabsichtigt hat – ist dies falsch? Ich würde sagen, es ist wiederum ein kreativer Akt, der hier geschieht, der Betrachter "baut" an der Bedeutung des Kunstwerks mit und macht sich das Kunstwerk zu eigen, um für sich selbst wiederum Sinn herauszulesen – die Erfahrung von "Heureka! Das ist es!", nach der wir alle in der einen oder anderen Art streben. Und die Erfahrung, sich selbst und die Welt wieder ein Stückchen mehr zu verstehen, die Welt "nach innen" zu erobern – in diesem Fall durch die Erfahrung eines Kunstwerks.
Und schlussendlich gehen wir durch das Leben mit einem wachsenden "Alphabet", mit dem wir uns und unsere Erfahrungen ausdrücken können. Als Kind gaben Märchen uns ein Alphabet mit – die böse Hexe (in dem Fall vielleicht eine unsympathische Lehrerin), die Mäuse als beste Freunde, der Winterschlaf in der Höhle als eine Phase, in der man sich in die Ruhe zurückzieht. Kunst schliesst sich für mich nahtlos an solche anderen Kulturgüter an. Und ja, Kunst ist manchmal sperrig, schwer zu verstehen – aber wegen dieser Kunstwerke, die einem nicht gefallen oder die vielleicht noch nicht ausgereift sind, die Kunst als solches in Abrede zu stellen, wäre so, als würde man wegen ein paar schlechter Filme die ganze Filmwelt als blöd bezeichnen. Wer sich darauf einlässt, erfährt eine Welt, die so ein bisschen magisch ist, ein bisschen märchenhaft, faszinierend – nämlich dann, wenn man die Kontrolle loslässt, Kunst "geschehen lässt", dem Prozess vertraut und sich auf wundersame Weise alles ineinanderfügt, plötzlich einen Sinn ergibt, was aber nur abseits des zielgerichteten Denkens passiert, nämlich dort, wo das Unterbewusstsein auf organische Weise seine Welt zusammenfügt, ohne dass wir einen Einfluss darauf haben.
Der Strich auf der Leinwand, er mag richtig breit und knallig rot werden und Raum einnehmen, er mag ganz dünn und schmal sein, in hellgrau, sich kaum auf die Leinwand trauen, er mag mit zitternder Hand gezogen sein oder stramm und energisch von einer Ecke zur andern ziehen und vielleicht sogar über die Leinwand hinaus auf die Wand weitergezogen werden – ein Durchbruch. Oder ein Strich, der sich komplett neben der Leinwand befindet – vielleicht das Gefühl, neben sich zu stehen. Ein dünner zittriger Strich neben der Leinwand und viele knallige, breite Striche auf der Leinwand – ein Gefühl, das wir aus dem Alltag kennen…? Wer einen Strich auf der Leinwand langweilig findet, hat noch nie wirklich einen Strich betrachtet.